Vor genau 12 Monaten haben wir in unserer Prognose postuliert, dass der Pfad für die Kapitalmärkte etwas steiniger werden könnte, allerdings hatten wir weder einen derart dimensionierten Krieg auf europäischem Territorium noch eine solche „Explosion der Inflationsraten“ rund um den Globus in unserem Basisszenario erwartet. Die Verunsicherung aller Marktteilnehmer ist unverkennbar und die täglichen Bewegungen über alle Assetklassen hinweg haben historische Dimensionen erreicht. Dieses Gezerre um einen Marktpreis gehört allerdings für jeden Börsianer zum Tagesgeschäft, selbst wenn das Nervenkostüm bei der eingeschlagenen Richtung doch merklich beansprucht wird. Aus langjähriger Erfahrung können wir allerdings berichten, dass zu jeder Krisenbewältigung die Funktionalität der Kapitalmärkte eine grundlegende Voraussetzung ist und genau diese Funktionalität erachten wir unverändert als gegeben an. Beim Blick nach vorne gerichtet ist allerdings zu konstatieren, dass sich für alle Investoren zwangsläufig aufgrund veränderter Parameter und Rahmenbedingungen völlig neue Denkansätze ergeben werden.
So ist aus unserer Sicht eine über Jahrzehnte zu beobachtende Globalisierung nicht nur zum Stillstand gekommen, sondern wird mit einer nicht erwarteten Dynamik umgekehrt. Auch ist derzeit eine völlige Neupositionierung der globalen Player (sowohl politisch, wirtschaftlich als auch strategisch) unverkennbar. Das Schmieden von Allianzen ausschließlich auf dem Fundament wirtschaftlicher Interessen wird im Moment deutlich höher gewichtet als ein weltweites Miteinander im Sinne der Menschheit. Leider führt das dazu, dass selbst die absehbare Zukunft weniger planbar, geschweige denn prognostizierbar ist. Selbst die Wirtschaft- und Umweltpolitik der Industrienationen wird täglich hinterfragt und neu austariert, da Lieferverträge nicht mehr erfüllt werden und die eigentlich geplante Abkehr von fossilen Brennstoffen mit Blick auf die anstehende Jahreszeit nun notgedrungen über Bord geworfen werden muss. Die gutgemeinten Vorreiterpläne auf Ebene der Europäischen Union müssen deshalb schnellstmöglich angepasst und im absoluten Krisenmodus – koste es, was es wolle – neu verabschiedet werden.
In unserem Basisszenario erwarten wir, dass die Neuzementierung der Pfeiler und die Neuausrichtung der Leitplanken für planbare Entwicklungen seitens der supranationalen Einrichtungen noch lange nicht abgeschlossen sind. Trotzdem sehen wir unverändert das Bestreben des denkenden Menschen nach Problemlösungen auf dem Verhandlungsweg und am Ende des Tages ist es keiner Staatsform dienlich, wenn Gleichgewichte über einen langen Zeitraum aus der Waage sind. Selbst die nach den Bevölkerungszahlen größten Volkswirtschaften wie China und Indien sind auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass ein funktionierender Welthandel als Nährboden für weiteren Bevölkerungswohlstand gesichert ist. Rufe nach einem Ende des Abendlandes halten wir absolut für unangebracht, wenngleich eine gravierende Neuausrichtung großer Teile – insbesondere auf Seiten der Industrienationen – vermutlich unabdingbar werden. Die wirtschaftliche Evolution wird unseres Erachtens durch die äußeren Umstände dynamisiert, was auf lange Sicht natürlich eher Chancen als Risiken birgt. Beim Blick in die Auftragsbücher großer Teile der und beim Sortieren der Unternehmensprognosen für das Jahr 2023 ist zumindest augenscheinlich, dass die Mehrzahl der Unternehmenslenker mit steigenden Umsätzen und Ergebnissen rechnet. Sollten diese Prognosen nur ansatzweise korrekt und erreichbar sein, so sind die meisten Unternehmensbewertungen auf dem aktuellen Niveau eher mit Upside-Chancen behaftet.